Friedemann Herz

DIE ORGEL IM 20. JAHRHUNDERT

Im Jahre 1906 baute Oscar Walcker die Konzertorgel für das „Königliche Odeon“ in München. Reger war bei der Abnahme der neuen Orgel zugegen. Oscar Walcker berichtet darüber in seinen Lebenserinnerungen: „Es erschienen Bussmeyer, Mottl und Reger; letzerer setzte sich an den Spieltisch, zog alle Register und griff mit allen Fingern in die Tasten. Mottl kam zum Spieltisch und forderte Reger auf, etwas Vernünftiges zu spielen. Reger erhob sich mit den Worten: „Ich versteh so wenig wie Sie von der Orgel, ich schlage vor, wir trinken jetzt ein Glas Bier zusammen.“ Damit war die Orgelabnahme beendet.“ Aus heutiger Sicht ist belegbar, daß Max Reger, der uns dieses großartige Œuvre hinterlassen hat, keinerlei Einfluß auf den Orgelbau der damaligen Zeit hatte. Er entwarf keine Orgeldispositionen, selbst die Registrierangaben in seinen Werken sind äußerst spärlich. Sie erschöpfen sich meist in Angaben der Fußzahlen, wobei offensichtlich additive Prinzipien vorherrschen. Entgegen allen Vermutungen muß man konstatieren, daß es keine Reger-Orgel gab oder gibt. Diese großen symphonischen Orgeln von Walcker, die das damalige Denken über den Orgelbau repräsentativ darstellen,  stehen vor allem deswegen in Verbindung mit dem Regerschen Schaffen, da an ihnen die Organisten wirkten, die technisch in der Lage waren, diese enorm schwierigen Stücke zu spielen. 

Er, Max Reger, war Pragmatiker, lobte in einem Brief 1913 an den Herzog von Meiningen die neue Errungenschaft des fahrbaren Spieltisches. Dank der Elektrifizierung war dieser bequeme Umstand möglich. Nach dem Instrument in München baute Walcker 1909  die große Orgel in St. Reinoldi in Dortmund, wobei es sich um die erste fünfmanualige Orgel in Deutschland handelte. Gleich nach der Fertigstellung dieses Instrumentes fand dort das erste deutsche Reger - Fest statt. Anläßlich der Einweihung der Orgel in der Michaelskirche in Hamburg, ebenfalls Walcker, 1912, spielte Alfred Sittard, der vor seiner Berufung nach Hamburg Organist an der Kreuzkirche in Dresden war, Regers „Phanatasie und Fuge über B-A-C-H“ op. 46. Der Weseler Domorganist und spätere Thomaskantor Karl Straube, der erwähnte Sittard, der Dortmunder Organist Carl Holtschneider (er organisierte das erwähnte Reger-Fest), der Berliner Arthur Egidi, die gesamte Organistenprominenz also spielte seine Werke. Man sprach euphorisch - eine Platitüde - vom Bach unserer Tage. „Der noch nicht Dreißigjährige war ein Sohn des Fin de sìecle und wohlvertraut mit der Dichtung seiner Zeit: er las Nietzsche und Zola, Dehmel und Hauptmann, Ibsen, Strindberg Tolstoj, Sudermann, die Lyriker Liliencron, Bierbaum, d’Annunzio.“ (Helmuth Wirth). Seine letzte Orgelkomposition, die „Phantasie d-moll“  op. 135 b (1916) ist Richard Strauss gewidmet. Reger starb  42jährig am 11. Mai 1916 in Leipzig, bereits am 19. Mai fand in St. Petersburg ein Gedenkkonzert statt.
Dieses Regersche (das nach Bach umfangreichste) Orgelwerk, hat das 20. Jahrhundert überlebt, dabei keinen Funken seiner ursprünglichen Leuchtkraft eingebüßt. Ein Organist am Ende dieses Jahrhunderts, der Reger nicht spielt, zumindest nicht kennt, ist undenkbar. Arnold Schönberg bewunderte Max Reger, würdigte frühzeitig dessen Begabung. In seinem Orgelwerk „Variations on a Recitative“ op. 40 (komponiert 1941, veröffentlicht 1947 in New York) bezieht er sich auf Regers „Variationen und Fuge über ein Originalthema“ op. 73 aus dem Jahre 1903.

Erlauben sie mir einen Exkurs, der die Konfessionen berührt. Wer waren die erwähnten Organisten, die Reger uraufführten, in die Kirchen und Konzertsäle hineintrugen? Sie gehörten beinahe alle der evangelischen Kirchenmusik an, voran der prominenteste unter ihnen, der Thomaskantor Karl Straube (Reger: „Die Orgel hör ich gern, allein mir fehlt der Straube.“). Reger aber war  bayerisch-katholischer Herkunft. Aufgrund seiner Ausbildung und seiner beruflichen und sozialen Stellung war aber kaum ein katholischer Organist in Deutschland in der Lage, seinen Zeitgenossen Reger zu spielen. Die vergleichbaren katholischen Positionen, nicht nur in der Kirche, sondern auch in den Hochschulen, etwa die von Sittard oder Straube, waren dem Klerus vorbehalten, wobei in der Regel die musikalische Qualifikation eine zweitrangige Rolle spielte. Der Stellenwert der Kirchenmusik und vor allem der Orgel war in der evangelischen Kirche ungleich höher angesiedelt. Erst in den sechziger Jahren änderte sich dieser beklagenswerte Umstand, erfuhr der Student der katholischen Kirchenmusik eine bessere Ausbildung, hörte die Verteufelung des gottlosen Virtuosen auf. Auch Messiaen erfuhr seine Rezeption in Deutschland vor allem durch evangelisch Kollegen. 


DIE ORGELBEWEGUNG

Die im Kollegiengebäude I der Universität Freiburg in Breisgau befindliche Aula beherbergt ein Instrument, das sich von den üblichen Kirchen- und Konzertorgeln in verschiedener Hinsicht unterscheidet: die sogenannte „Praetorius-Orgel“. In Anlehnung an ein Dispositionsmuster des frühbarocken Komponisten und Musikschriftstellers Michael Praetorius (1571/72-1621) wurde sie in den Jahren 1920-21 erbaut. 

Diese Praetorius-Orgel ist aufs engste mit dem Namen und Wirken ihres Anregers Willibald Gurlitt (1889-1963) verknüpft. In die Zeit, da er den Lehrstuhl für Musikwissenschaft an der Freiburger Universität innehatte und gleichzeitig Direktor des musikwissenschaftlichen Seminars war (von 1920 bis zu seiner Emeritierung 1958; 1937 bis 1945 aus politischen Gründen suspendiert) fällt die zweimalige Errichtung dieser Orgel. Der Erbauer des Instrumentes war Oscar Walcker (1869-1948). Erstmals gespielt wurde sie am 4. Dezember 1921, dem 300. Todesjahres von Praetorius, Solist war  Karl Straube, dem damals führenden und bekanntestem Organisten. Der Bombenangriff auf Freiburg im November 1944 zerstörte auch die „Praetorius-Orgel“. Den Wiederaufbau nach dem Krieg besorgte ebenfalls die Fa. Walcker, diesmal jedoch unter der Leitung von Oscar Walckers Enkel Werner Walcker - Mayer. Diese Orgel erreichte niemals den Bekanntheitsgrad des ersten Instrumentes. Dieses erste Instrument aber stand im Mittelpunkt dieser „Orgel-Erneuerungsbewegung.“ Gurlitt prägte diesen Begriff.

Aus heutiger Sicht kann man feststellen, daß der Wiederaufbau in den fünfziger Jahren die letztendlich schon vorübergegangene Zeit der Orgelbewegung zu konservieren versuchte. Aber dieses Ansinnen der zwanziger Jahre war selbst schon eine äußerst restaurative Bestrebung, die durch Rückbesinnung auf vergangene Epochen der Musikgeschichte gegen den romantisch geprägten und dem 19. Jahrhundert angehörenden Musizierstil opponierte.

Nach Ansicht der Orgelbewegung begann mit der Übernahme eines orgelfremden Klangideals, nämlich dem des romantischen Orchesters, nicht nur der Niedergang des Orgelbaus, sondern auch der Übergang von der Kult- zur Konzertorgel. Sie, die Orgelbewegung, beklagte den Wechsel von der an die Liturgie, Polyphonie und den gregorianischen Choral gebundene Klangwelt der barocken Orgel zur subjektiven der romantischen Orgel. 

 Auf verschiedenen Orgeltagungen wurde zwischen den beiden Weltkriegen über die Ziele künftigen Orgelbaus und vor allem auch über Orgelbau und Orgelmusik des 16.-18. Jahrhunderts diskutiert.  Zu erwähnen ist die „Hamburg - Lübecker Organistentagung“ 1925. Im Mittelpunkt stand die Arp - Schnitger - Orgel in der Hauptkirche Sankt Jacobi in Hamburg. Es folgte 1926 eine „Freiburger Tagung für deutsche Orgelkunst.“ Vorgestellt wurde die erwähnte „Praetorius-Orgel.“ Diskutiert wurde erfreulicher Weise auch über die Orgelmusik von Max Reger.  1938 fand die „Zweite Freiburger Tagung für deutsche Orgelkunst“ wiederum in Freiburg i. B. statt. Blättert man heute in Programmheften und Referaten, die sich auf diese letzte Tagung innerhalb der Orgelbewegung beziehen, strömt einem nazistisches Gedankengut vehement entgegen.

Im Kontext der „Orgelbewegung“ sind noch zu erwähnen Hans Henny Jahnn  (1894-1959) und  der Theologe und Organist Christhard Mahrenholz. Der Schriftsteller und Dramatiker Hans Henny Jahnn beschäftigte sich nicht von historischer oder musikwissenschaftlicher Seite, sondern von einem metaphysisch - religiösen Ansatz aus mit dem Orgelbau. Während seines Exils in Norwegen, durch das er sich der Teilnahme am ersten Weltkrieg entzog, entstand der Plan für eine Kathedrale, die ein Spiegel sakraler Mathematik sein sollte, die Orgeln in ihr sollten sogar die Harmonie der Welt reflektieren. Mahrenholz (1900-1980) hinterließ umfangreiche organologische Schriften. Er plädierte wie Albert Schweizer vor allem für die mechanische Traktur und die Schleiflade. Die Debatte über diesen technischen und gleichzeitig ästhetischen  Aspekt  ist ein Verdienst der Orgelbewegung. Diese Bauweise setzte sich letztendlich auch durch, ist heutzutage eine Selbstverständlichkeit. Auch war diese Auseinandersetzung um Orgel und Orgelmusik eine originär deutsche Angelegenheit, blieb Italien und Frankreich erspart. 

Der Musikwissenschaftler H. H. Eggebrecht spricht von einer historischen Schuld der Orgelbewegung. Dieselbe sieht er in der Ablehnung der romantischen Orgelkunst des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts. Die enge Verbindung der Orgelbewegung mit einer gleichzeitig stattfindenden liturgischen Bewegung führte zur einseitigen Auffassung der Orgel als Kultinstrument. Verbunden damit ist die Produktion von neobarocken cantus-firmus-Kompositionen, einer „Kunst“ im Gewand der Gebrauchsmusik, gegen die selbstverständliche Autonomie des Kunstwerkes gerichtet. 

 Albert Schweizer, der Protagonist der sogenannten “Elsässischen Orgelreform“, protestierte schon 1906 gegen die „Fabrikorgel“, stand der deutschen „Orgelbewegung“ anfangs wohlwollend gegenüber, nahm aber bald eine  distanzierte Haltung  ein. Schweizers Vorstellungen, geprägt vom französischen Orgelbau, haben in der heutigen Bauweise ihren Niederschlag gefunden. 

PAUL HINDEMITH

Obwohl man Hindemiths Konzert für Orgel und Kammerorchester im Zeichen der Auflehnung gegen romantische Mißbräuche der Orgel sehen kann, ist Hindemiths Orgelmusik kein Resultat der „Orgelbewegung“ oder sogar ein Beitrag zu ihr. Hindemith, geboren 1895, schrieb 1937 drei Orgelsonaten. Zehn Jahre vorher komponierte er dieses Konzert für Orgel und Kammerorchester op.46, 2. Es schließt als Nummer sieben die Reihe der Kammermusiken ab. Die Urauffführung fand 1928 im Frankfurter Sendehaus anläßlich der Einweihung der neuen Orgel dort statt. Dem Soloinstrument stehen acht Holzbläser, drei Blechbläser und drei tiefe Streicher gegenüber. Fanfarenhaft eröffnet die Trompete die Ecksätze. Das war Orgelmusik von einem Komponisten, der die Avantgarde der zwanziger Jahre anführte, in Donaueschingen mit seinen Kammermusiken Aufsehen erregte und als revolutionärer Bilderstürmer abgestempelt wurde. Die Gegensätze sind evident: hier eine sich jahrzehntelang sich hinschleppende, konservativ geprägte Diskussionsrunde, dort das enfant terrible der musikalischen Avantgarde. 1962, ein Jahr vor seinem Tod, schrieb Hindemith das „Concerto for organ and Orchestra“ als Auftragswerk der New York Philharmonie für die Eröffnung des Lincoln Center for the Performing Arts. Wiederum war eine Orgelneubau Anlaß für ihn, Orgelmusik zu komponieren. Anton Heiller war der Solist der Uraufführung, Hindemith dirigierte. 

FRANKREICH

Im gegenwärtigen Konzertleben  erfreut sich die Orgelsymphonik französischer Herkunft sehr großer Beliebtheit. Die diesbezüglichen Aufführungszahlen übersteigen bei weitem diejenigen der zeitgenössischen Orgelmusik. (Das Orgelwerk Regers wurde in Frankreich kaum  zur Kenntnis genommen.) Da es in Frankreich und auch in England keine mit der Orgelbewegung vergleichbare Tendenzen  gegeben hat, erfolgte auch kein Bruch mit der romantischen Tradition.
 
Dieser Umstand ist vor allem dem französischen Orgelbau zu verdanken, der im 20. Jh. allein mit dem Namen Aristide Cavaillé-Coll verbunden ist. In seinem Buch „Die Entwicklungsgeschichte der Orgelbaukunst“, erschienen 1929,  beginnt Emile Rupp das IX. Kapitel: „Unser Buch ist am wichtigsten Punkte seiner Darstellung angelangt. Läuft doch die ganze Orgelbauentwicklung  der verschiedenen Länder und der vergangenen Jahrhunderte strahlenförmig in dem einen Namen Aristide Cavaillé-Coll zusammen, um, befruchtet von dem gewaltigen und unsterblichen Genius dieses Orgelbauers, der Welt das zu bringen, was man gemeinhin unter der Bezeichnung Die moderne Orgel zu verstehen pflegt.“
 
Dieses hymnische Bekenntnis mutet uns heute stilistisch seltsam an, die Hymne als solche aber hat ihre Berechtigung. Es würde den zeitlichen Rahmen sprengen, es müßte zu viel von Orgelbau und diesbezüglicher Technik die Rede sein,  wollten wir hier dem Phänomen Cavaillé-Coll  gerecht werden. Besser ist es, Sie reisen nach Paris und besuchen St. Sulpice oder La Trinité, wo Messiaen an der Cavaillé-Coll von 1931 an mehrere Jahrzehnte hindurch den Organistendienst versah. 

Messiaens Orgellehrer war Marcel Dupré, der nach Charles-Marie Widor und Eugène Gigout 1926  die Leitung der Orgelklasse am Pariser Conservatoire Nationale Supérieur  übernahm.. Alle diese komponierenden und improvisierenden Organisten bevorzugen als formale Anlage den Typus der Orgelsymphonie, wenden sich dem gregorianischem Choral zu. Improvisation und Komposition stehen dabei oft in einem engen Zusammenhang,  begegnen sich zuweilen. Felix Alexandre  Guilmant (1837-1911), Widor, der Lehrer Albert Schweizers, Louis Vierne und Marcel Dupré, der als Interpret der Bachschen Orgelwerke weltberühmt war, stehen in diesem Kontext im Vordergrund.  Duprés Schüler Jean Langlais (1907-1991) hinterließ ein umfangreiches Werk. Das schmale (Euvre des jung gefallenen Jean Alain (*1911-40), Schüler von Dupré und Paul Dukas, zeigt in der Behandlung der Tonalität und vor allem im Umgang mit rhythmischen Komponenten erstaunlich neue Weg auf. Erwähnt seien noch Maurice Duruflé, Gaston Litaize,  die virtuosen Organisten Jean Guillou (*1930) und Jean-Pierre Leguay (*1939).  Die wichtigen Komponisten sind aber Charles Tournemire und als singuläre Erscheinung Olivier Messiaen (1908-1992), zweifelsohne der einzige Organist, der als Komponist entscheidenden Einfluß auf die Entwicklung im 20. Jh.  nahm. Sein Denken über Theologie, Zeit, Rhythmus und „klingende Farben“ ist vielfältig dokumentiert und es ist hier nicht der Ort, Leben und Werk detailliert darzustellen.

CHARLES TOURNEMIRE

Der erst in letzter Zeit von den Organisten entdeckte Charles Tournemire wurde 1870 in Bordeaux geboren. Seine musikalischen Studien absolvierte er in Paris bei César Franck und  Charles-Marie Widor. Er übernahm im Jahre 1898 die Organistenstelle an der Basilika Sainte Clotilde zu Paris, ein Amt, das vor ihm C. Franck und Gabriel Pierné innegehabt hatten. 1919 wurde Tournemire als Professor für Kammermusik an das Conservatoire National Supérieur de Musique de Paris berufen. Er starb 1939 in Arcachon. Man muß Thomas Daniel Schlee zustimmen, der als Herausgeber einiger Werke Tournemirs als Vorwort bei der Universal Edition schreibt: „Es ist wohl angebracht, in Tournemire eine der wichtigsten, ja revolutionärsten Persönlichkeiten der französischen Orgelmusik des beginnenden 20. Jahrhunderts zu sehen. In einer Epoche, in welcher Louis Vierne die glühende Chromatik Francks bis zur letzten Konsequenz führte und Widor als Architekt großer, klassizistischer, mitunter beinahe kühl anmutender Formen von eben dieser Chromatik sich zu lösen bemühte, erschien mit Tournemire [...] eine völlig neue, die Entwicklung der Orgelmusik wesentlich beeinflussende Sprache.“  „L’orgue Mystique“  op. 55-57 stellt das Hauptwerk dar. Es handelt sich um Orgelstücke, die sich auf  das Proprium  aller  Sonn- und Feiertage des gesamtem Kirchenjahres beziehen.

Wie in Frankreich, so reicht auch in England und Italien die romantische Tradition weit in das 20. Jh. hinein. Die Orgelwerke von Charles Villiers Stanford, 1852-1924, Organist am Trinity College in Cambridge, Sir Edward Elgar, 1857-1934, (Sonate in G-Dur) und William Henry Harris (1883-1937) belegen dies. Aus Italien sind zu nennen Marco Enrico Bossi, geboren 1861 in Salò am Gardasee, wo er Domorganist war, gestorben 1925 auf der Überfahrt von Amerika nach Italien. Er war der größte italienische Organist seiner Zeit, Reformer des Orgelbaus. Ferner ist zu erwähnen Adolfo Bossi. 1907 wurde er zum Domorganist in Mailand ernannt.

BENGT HAMBRAEUS, MAURICIO KAGEL UND GYÖRGY LIGETI

Nach 1945, der „Überwinterung“ (dies bezieht sich auf Deutschland) der Kirchenmusik, evangelisch wie katholisch, sahen die Zeitgenossen die Orgel und die Orgelmusik als eine historische Spezies an. In den Orgelkonzerten wurden die „Alten Meister“, Bach, die virtuosen Franzosen, Reger, Joseph Rheinberger, Sigfrid Karg-Elert und der wieder „erlaubte“ Mendelssohn gespielt.

Der Musikwissenschaftler Friedrich Blume, der spätere Herausgeber von „ Die Musik in Geschichte und Gegenwart“, den kurz nach Kriegsende, 1947, seine Kollegen zum Präsidenten der Gesellschaft für Musikforschung wählten, obwohl er während der Reichsmusiktage vom 22. bis 29. Mai 1938 in Düsseldorf, den abschließenden Festvortrag über „Musik und Rasse“ gehalten hatte, konstatierte 1950, daß atonale Musik gegen Gott sei, da sie nicht auf Naturgesetzen basiere. Zuweilen wurde Thomas Manns „Doktor Faustus“ von 1947 mißverstanden als Apologie der Tonalität gegen die „Zweite Wiener Schule.“ Dieser Komplex wäre einer speziellen Untersuchung wert.

Wer komponierte - sagen wir um 1950,  in der Mitte des Jahrhunderts, Orgelmusik?  Es waren Hochschullehrer, Organisten: Ernst Pepping (*1901-1981), Johann Nepomuk David (1895-1977), Hugo Distler (1908-1942), Siegfried Reda (*1916-1968), er war Schüler von Pepping und Distler, Helmut Bornefeld, Johannes Driessler (*1921), Hermann Schröder, der Domorganist an der St. Hedwigs-Kathedrale in Berlin Joseph Ahrens (1904-1988), er war Schüler des erwähnten Reger-Interpreten Alfred Sittard, der Hindemith-Schüler und spätere Hochschullehrer in Freiburg i.B. und danach in München Harald Genzmer, Jahrgang 1907.

 Die progressiven unter ihnen spielten Hindemiths Orgelsonaten, erwähnten im Unterricht Hindemiths „Unterweisung im Tonsatz“ oder sogar Webern, Schönberg und Alban Berg. Die Musik, die sie schrieben, orientierte sich an Altmeister Bach, war selbstverständlich tonal überprüfbar, oft  in der immer schon übermäßig strapazierten Form des Choralvorspiels oder der Choralphantasie angelegt, einer Polyphonie hörig, die angesichts des angewandten musikalischen Materials  zuweilen zum Ghetto wurde. Oft handelte es sich schlicht und einfach um eine von der Liturgie dominierte Gebrauchsmusik. In diesem Kontext ist die Bemerkung von Carl Dahlhaus von 1968 erwähnenswert: “Nicht zu allen Zeiten ist Kirchenmusik als Kunst möglich, und es ist nutzlos, die Schwierigkeiten dadurch zu verleugnen, daß man brüchige Kompromisse zu Synthesen stilisiert“. 

Bereits 1949 spielte Michael Schneider Arnold Schönbergs op. 40 in Kranichstein (später weltberühmt unter dem Namen  „Darmstädter Ferienkurse für Neue Musik“). Nur einige  wenige kosmopolitisch erzogene Musiker kannten diese Orgelmusik des im Exil lebenden Komponisten. Dasselbe gilt für Messiaen. Helmut Walcha, der lange in Frankfurt a. M. lehrende Organist - mehrere Generationen evangelischer Kantoren gingen durch seine Orgelklasse - und berühmter Bach-Interpret, hörte anläßlich eines Orgel-Festivals in Hannover 1955 zu erstenmal Musik von Messiaen. Der Interpret war Gaston Litaize. Er, Walcha, war schockiert. In seinem Unterricht existierte dann Messiaen nicht. Später erging es in dieser Orgelklasse Max Reger ebenso. 1953 fand für die Musikgeschichte ein bedeutsames Ereignis statt: Messiaen spielte in Stuttgart die Uraufführung seines „Livre d‘orgue“ aus dem Jahre 1951. Zur Kenntnis nahmen dieses Konzert aber nur wenige. 

Der neue Aufbruch kam unerwartet in den frühen 60er Jahren und aus einer Richtung, die niemand vermutet hätte. „Volumina“ (1961/62) von György Ligeti, „Improvisation ajoutée“ (1961/62) und „Phantasie für Orgel mit Obbligati“ von Mauricio Kagel,  „Interferenzen“ (1961) des Schweden Bengt Hambraeus. Ex nihil existierte eine Orgelmusik, die mit dem alten ideologisierten und oft mißbrauchten Instrument nichts mehr zu tun hatte. Eine neue Welt tat sich auf. Dieses Instrument des „von Natur aus konservativen „Pfeifenkistenklans.“ (Glenn Gould) wurde wie ein normales Musikinstrument von diesen Komponisten gesehen und behandelt. 

Allein Bengt Hambraeus hatte Erfahrung mit der Orgel. Er ist Jahrgang 1928, geboren in Stockholm. Bereits während der Schulzeit war er Orgelschüler von Alf Lindner. Er studierte Musikwissenschaft, Kunst-und Relgionsgeschichte in Uppsala, wurde promoviert, war Bibliothekar am Musikwissenschaftlichen Institut. (Es existiert von ihm u.a. eine lesenswerte Studie: „Klangprobleme in der Orgelbaukunst des 17.u.18. Jh. Über barocke Registrierprinzipien besonders im Hinblick auf Bachs letzte Orgelwerke.“) Als Organist hat Hambraeus mehrfach in Schweden und in anderen Ländern konzertiert. Er arbeitete in der Musikabteilung des Schwedischen Rundfunks. Seit 1972 ist er Professor an der McGill University in Montreal, wo er bis zu seiner Emeritierung 1995 wirkte. Als Komponist ist er hauptsächlich Autodidakt, doch war seine Teilnahme an den Intertnationalen Ferienkursen für Neue Musik in Darmstadt 1951-55 für seinen Werdegang besonders wichtig. Er ist einer der Pioniere auf dem Gebiet der elektronischen Musik. Bedeutungsvoll für seine künstlerische Entwicklung sind nicht nur Max Reger, Anton Webern, Edgar Varèse, John Cage und Olivier Messieaen, sondern ebenso seine Begegnungen mit gleichaltrigen Kollegen wie Stockhausen, Luigi Nono und Pierre Boulez. Vor seiner bahnbrechenden  Idee mit „Interferenzen“ hatte er „Constellations I-III“ (1985-1961) veröffentlicht. 1966/67 erschienen die „Tre Pezzi.“ Hambraeus’ Erfahrungen mit japanischer und chinesischer Musik findet hier ihren Niederschlag. In den „Five organ pieces“, die zwischen 1969 und 1975 entstanden, zitiert der Komponist Kollegen („Monumentum per Max Reger“).  Erwähnt sei hier noch das „Livre d’Orgue“ aus den Jahren 1980/81, komponiert anläßlich der Einweihung einer französisch - barock konzipierten Orgel in der McGill University. Es besteht aus vier in einzelnen Bänden veröffentlichten Teilen, die jeweils zwölf Stücke enthalten. Der Komponist stellt sich mit dieser Musik dezidiert in die Tradition der klassischen französischen Orgelmusik, verwendet Titel, Satztypen und  Registrierangaben, die für diese barocke Epoche typisch sind. Bisher war es zuweilen schwierig, Partituren von Hambraeus zu erwerben. Um so erfreulicher ist der Umstand, daß seine Kompositionen aus den siebziger und achtziger Jahren nun in einem renommierten Verlag durch  Martin Herchenröder  eine sorgfältige Edition erfahren.

György Ligeti, 1923 im Landstrich Siebenbürgen geboren, kam 1965 aus Ungarn in den Westen, stellt die Orgel in „Volumina“ (1961/62, revidiert 1966) als  ein außerordentlich sensibel atmendes Wesen dar. In der Partitur steht keine einzige Note wie üblich mit Hals und Kopf. Der Interpret spielt die Grafik, die der Komponist penibel in einem umfangreichen Text erläutert. „Volumina“, Hans Otte und dem Organisten Karl-Erik Welin, der das Werk uraufführte, gewidmet, ist gleichsam der Innbegriff der zeitgenössischen Orgelmusik. Daß der Höhepunkt einer Entwicklung am Beginn derselben steht, ist in der Kulturgeschichte kein ungewöhnlicher Vorgang.

Mauricio Kagel, 1931 in Buenos Aires geboren, kam 1957 nach Deutschland. 1961/62 schrieb er „Improvisation ajoutée, Musik für Orgel“. Es agieren ein Organist und zwei Registranten. Der Notentext ist in allen Einzelheiten fixiert. Die Registranten sind rhythmisch eingebunden. Kagel: „Die drei Mitwirkenden fügen dem Orgelklang stimmliche Vorgänge bei, die vom Singen mit geschlossenem Mund bis zum Schreien eine Ausdrucksskala darstellen, deren weitere Stufen das Pfeifen, Husten, Lachen, Klatschen und Sprechen sind. Es besteht eine beunruhigende Dramaturgie, ähnlich der abstrakten Theaterhandlung in einer dem Hörer unbekannten Sprache, deren bedrohliche Atmosphäre, ekstatische Entladungen und rasch aufeinanderfolgende Höhepunkte durch die Majestät des Orgelklanges noch verstärkt wird“

„Phantasie für Orgel und Obbligati“ stammt aus dem Jahre 1976. Hinzu kommen zwei Tonbänder. Man könnte diese Phantasie wegen der Geradlinigkeit  des Handlungsstrangs als virtuelles Hörspiel bezeichnen. In der Begegnung mit dem naturalistischen Inhalt der Zuspielungen (sie beziehen sich auf das profane Leben eines Organisten und liturgische Handlungen im Kirchenraum) scheint die abstrakte Orgelmusik sich zu verwandeln und das Geschehen aus den Lautsprechern zu kommentieren. Die UA spielte Gerd Zacher 1967 in Hamburg-Wellingsbüttel. 

Jeder, der diese Orgelstücke aus den 60er Jahren heute hört oder spielt, wird feststellen, daß sie nichts von ihrer Faszination verloren haben. Für die Orgelliteratur und die Interpreten ist der Umstand von Bedeutung, daß nach Erscheinen dieser Musik viele arrivierten Komponisten dieser ehemals ideologisierten Orgel nicht mehr aus dem Weg gingen. Ich nenne ein paar Namen: Der Schweizer und ehemalige Kompositionslehrer in Freiburg i.B. Klaus Huber, Günther Becker, Milko Kelemen aus Slatina im ehemaligen Jugoslawien, der 1925 geborene Italiener Luciano Berio, Hans Werner Henze, Aribert Reimann, dessen Vater ein Organist war,  Marek Kopelent, 1932 in Prag geboren, der ebenfalls 1932 in Mailand geborene Niccolò Castiglioni, der lange in Berlin lehrende Isang Yun, der 1900 in Wien geborene und in der Emigration lebende Ernst Krenek, Hans Ulrich Lehmann, Georg Katzer.

Dieser ungeheure Aufbruch hatte auch noch diese erfreulichen Konsequenzen, das Konzertleben angehend: Es etablierten sich Festivals, „Orgelwochen“,  „Studientage“ usw. Ich erwähne zwei wichtige. 

In der Kleinstadt Sinzig bei Bonn gründete Peter Bares allen Widerständen trotzend die „Internationale Studienwoche“. In der dortigen Pfarrkirche steht eine von Peter Bares konzipierte, speziell für avantgardistische Musik geeignete Orgel. Die Disposition enthält beispielsweise  eine Percussion, die wahlweise als Glockenton oder Xylophon verwendet werden kann,  Winddrossel, Tastenfesseln und Mixturensetzer stehen  zur Verfügung.  Seit 1976 traf sich alljährlich dort die Elite der Organisten aus aller Welt. Der WDR in Köln schnitt die Konzerte, innerhalb derer viele Uraufführungen stattfanden, mit und sicherte so die wirtschaftliche Basis. Leider fand die letzte „Studienwoche“ in den späten 80er statt. 

Der verstorbene Klaus Martin Ziegler gründete die renommierte „Woche der Neuen Geistlichen Musik“ in Kassel. 

Das Repertoire ist inzwischen nicht mehr überschaubar. Ich versuche dennoch eine Kategorisierung, die nur unvollständig sein kann.  Kagels Orgelwerke kann man sicher unter dem Aspekt des „Instrumentalen Theaters“ sehen .Dorthin gehören auch Dieter Schnebels „Choralvorspiele I und II“ (1966) und sein neues Stück „Toccata mit Fugen“ (1996) für Orgel, Schlagwerke und eine Windmaschine.

Eine andere Kategorie möchte ich als die poetische apostrophieren. Der in Deutschland lebende Juan Allende-Blin, geboren 1928 in Santiago de Chile, komponierte  „Mein blaues Klavier“, Viktor Suslin  „In my end is my beginning“ nach Maria Stuart, Sofia Gubaidulina verwendet den Titel „Hell und Dunkel“. Bei Adriana Hölszky finden wir Überschriften nach  Gottfried Benn und der „Apokalypse“. „Bann, Nachtschwärmerei“ von Wolfgang Rihm (*1952) gehört in diese Rubrik. Und hierher gehören sicherlich auch „In nomine Lucis“, das einzige Orgelstück von Giacinto Scelsi (1905 - 1988), „Pari Intervallo“ von Arvo Pärt,  die „Weiße Musik“ von Alexander Wustin und Martin Herchenröders (*1961) „Paul-Klee-Blatt III: Linien aus Nachtlicht.“

Die Kategorie Dialog verursacht kein Kopfzerbrechen. Günther Beckers (*1924) sehr erfolgreiches Stück  „Meteoron“ für Orgel, Schlagzeug und Tonband kann hier mit „Reliquienschrein“ für Orgel und Schlagzeug von Tilo Medek genannt werden. Ruth Zechlin, Adriana Hölszky und Sofia Gubaidulina („Detto I“) schrieben ebenfalls für die Besetzung Orgel und Schlagzeug. Bei Alfred Schnittke (1934 - 1998) gibt es die Konstellation Posaune und Orgel,  Sofia Gubaidulina komponierte ein Werk für Orgel und Cello („In croce“). Von Edison Denissow (1929 - 1996)  existiert eine zweisätzige Sonate für Violine und Orgel aus dem Jahr 1982.

Den Aspekt Zeit kann man auch heranziehen. Ohne Probleme läßt sich hier „Z - Zeit“ von Peter Ruzicka (*1948) einordnen, „Annum per annum“ von Arvo Pärt, „zeit raum I: ad fontes“ des Henze-Schülers Martin Herchenröder und das berühmte „Prinzipal Sound“ von Morton Feldman (1926 - 1987). Obwohl es sich um einen Amerikaner handelt, möchte ich dieses Stück erwähnen, das ohne die europäische Tradition undenkbar ist. Hans Joachim Hespos schrieb 1975 „SNS“. Thomas Blomenkamp (*1955) komponierte 1988 „broken sounds.“ Diese beiden Partituren könnte man unter dem Aspekt Radikalität in der Nachfolge von Varèse sehen. 

OSTEUROPA

Lassen Sie mich einen Blick in die osteuropäschen Länder tun. Das katholische Polen kann auf eine beachtliche Orgeltradition zurückschauen. Józef Surzy´nski und Feliks Nowowiejski hinterließen beachtliche Orgelwerke. Tadeusz Machl (*1922), Boleslaw Szabelski, Augustyn Bloch, Henryk Mikolaj Górecki sind zu nennen, ebenfalls der in Köln lehrende Krzysztof Meyer, Jahrgang 1943. Aus Rußland kam in den letzten Jahren beindruckende Orgelmusik. Die orthodoxe Kirche erlaubt keine Orgel. Allein in Konzertsälen sind sie vorhanden. Es ist hier nicht der Ort, auf die politischen Erdbeben, die sich dort ereigneten, einzugehen. Aber vielleicht war der Versuch, eine radikale Säkularisierung gewaltsam durchzusetzen, zuweilen der Anlaß, Musik für Orgel zu schreiben. In der ehemaligen DDR apostrophierten böse Zungen Orgelkonzerte mit dem umständlichen Begriff „Nihilistengottesdienst. 

Der im vergangenen Jahr verstorbene Alfred Schnittke schrieb „Zwei kleine Stücke“. Sofia Gubaidulina, 1931 in Tschistopol (Tatarische Republik) geboren, studierte zuerst Komposition in Kasan. Danach setzte sie ihre Ausbildung am Moskauer Konservatorium fort, zunächst bei Nikolaj Pejko, dann bei Wissarion Schebalin. Der jungen Gubaidulina begegnete die sowjetische Kritik anfangs mit skeptischem Interesse, später mit beharrlicher Schikane. Schostakowitsch ermutigte sie, ihren „falschen Weg“ weiterzugehen. Ihren Lebensunterhalt verdiente sie in dieser Zeit mit Filmmusiken. Erst nach der Perestrojka, als sie in der westlichen Welt längst zu den führenden Komponisten zählte, viele Auszeichnungen und Kompositionsaufträge erhalten hatte, begann man sich auch in ihrer Heimat für ihre Werke zu interessieren. Seit 1992 lebt Sofia Gubaidulina in der Nähe von Hamburg.  „Hell und Dunkel“ ist der Titel ihres ersten Orgelstückes,  später entstanden - wie schon erwähnt  -  „Detto I“  für Orgel und Schlagzeug und „In croce“ für Orgel und Cello. 

Viktor Suslin, 1942 in Niass (Ural) geboren, ebenfalls in Deutschland lebend, absolvierte seine kompositorische Ausbildung von 1962 bis 1966 am Moskauer Gnessin-Institut. Er schrieb zwei Orgelsonaten und „Lamento“. Zu erwähnen sind noch Dmitri Smirnow, geb. 1948 in Minsk, Alexander Wustin (*1943 in Moskau), Alfred Knaifel (*1943 im usbekischen Taschkent), Viktor Jekimowski (*1947 in Moskau). Dmitri Schostakowitsch (1906 - 1975) schrieb für Orgel in der Musik zu den Filmen „Goldene Berge“ (0p.30, 1931), „Freundinnen“ (op.41a, 1934/35) und die „Pferdebremse“ (op.97, 1955) sowie in der vieraktigen Oper  „Lady Macbath von Mzensk“ op.29. Die Zwischenaktmusik vom vierten zum fünften Bild ist als Passacaglia angelegt und für eine große Orgel komponiert. Da kaum ein Opernhaus über ein derartiges Instrument verfügt, instrumentierte Schostakowitsch diese Passacaglia nachträglich für Orchester. Die Uraufführung der Oper fand am 22. 1. 1934 im Maly-Theater in Leningrad statt. Die zweite Fassung der Oper, enstanden 1956-1963, kam mit der Opuszahl 114 unter dem Namen „Katerina Ismailowa“ 1963 in Moskau auf die Bühne. 

Diese in kurzer Zeit - Alexander Glasunow (1865-1936) war der erste russische Komponist, der Orgelmusik komponierte - zu großer Blüte gediehene russische Orgeltradition ist wesentlich diesen Männern zu verdanken: Alexander Gedicke (1877-1957) und den beiden berühmten Pädagogen Leonid Roisman (*1915), der in Moskau lehrte, wo eine Orgel von Aristide Cavaillé - Coll im großen Saal des Konservatoriums steht, und Issay Braudo (1896-1970), der von 1923 bis zu seinem Tod am Konservatorium in St. Petersburg unterrichtete. 

Orgelmusik aus Rumänien und Bulgarien ist bekannt geworden durch Corneliu Dan Georgescu (*1938) und Violeta Dinescu, der deutsch-rumänischen Adriana Hölszky (*1953), den 1949 in Sofia geborenen Bojidar Spassov.

Aus den baltischen Ländern sind anzuführen Edgar Arro (1911-1978) und Erkki-Sven Tüür (* 1959) . Beinahe zur Kultfigur wurde der 1935 in  Paide (Estland)  geborene Arvo Pärt. Er studierte in Talinn, wo die Vaterfigur der jungen estnischen Komponistengeneration, der Glasunow - Schüler Heino Eller (17887 - 1970) sein Lehrer war. Danach arbeitete er als Tonmeister beim Estnischen Rundfunk. 1980 übersiedelte er nach Wien. Ein Stipendium führte ihn 1981 nach Berlin, wo er seitdem als freischaffender Komponist lebt. 

Hoffen wir weiterhin auf neue Partituren und vor allem auf Interpreten, die sich leidenschaftlich mit ihnen auseinandersetzen; denn nach Strawinsky, der übrigens die Orgel in einem Interview mit Robert Craft ein Monster, das nicht atmet, nannte, ist ein Stück erst dann zu Ende komponiert, wenn es gespielt wurde.

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